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Aufgewachsen auf Wangerooge

Ingo Wolken (geb. 1961)

Als Kind war die gesamte Insel mein Spielplatz, Strand und Watt, Deiche und Dünen und jedes noch so kleine Wäldchen.

MOIN NR. 5 · 2021​

Meine drei Schwestern und ich stammen aus der Generation der Babyboomer der 60er Jahre. In der Schule waren wir sage und schreibe über dreißig Kinder in der 1. Klasse. Volle Klassen bedeuteten aber auch das Glück, viele Spielkameraden zu haben. Bei uns im Dorfgroden hatten die meisten Familien drei oder sogar vier Kinder. Was für eine tolle Kindheit hatte ich! Die ganze Insel war meine Spielfläche, der Strand und das Watt ebenso wie die Dünen und die Wäldchen. Auf dem Deich ließen wir riesige selbstgebastelte Drachen steigen, die nur mit einer stabilen Wäscheleine zu halten waren. Und im Watt, wo auch meine Aalreusen auslagen, hatte ich mit meinem Freund Jo ein Floß gebaut, mit dem wir sogar bis an die Fahrrinne segeln konnten. Alles fand draußen statt, ob im Sommer oder im Winter. Im Sommer habe ich gerne die Tage am Strand verbracht. Mein Vater Meinhard war als Rettungsschwimmer für die Sicherheit der Badegäste verantwortlich und hatte mich so auch immer Blick. Mittags kam meine Mutter und brachte uns etwas zu essen. Einmal habe ich sogar erlebt, wie mein Vater einen Mann aus dem Wasser gezogen und wiederbelebt hat. 

Als ich fünf Jahre alt war, habe ich bei meinem Vater das Schwimmen erlernt. Auch den Freischwimmer sollte ich gleich machen. Nach einer Viertelstunde sagte er, ich solle einfach weiter schwimmen und gleich meinen Fahrtenschwimmer machen. Das Wasser war kalt und ich war ja damals nur eine halbe Portion. Hinterher war ich aber fix und fertig und es bedurfte schon besonderer Überredungskraft, mich noch vom 3-Meter-Brett springen zu lassen.

Im Winter – und in den sechziger und siebziger Jahren hatten wir auf der Insel noch strenge Winter – spielten wir Eishockey auf dem Bahnhofsteich oder liefen auf dem Deichgraben Schlittschuh bis zum Café Neudeich. Oder wir fuhren mit unseren Schlitten den Hexenberg oder den Teufelsberg ­hinunter. 

In den kalten Monaten zog ich oft mit meinem Vater ins Watt, um Muscheln zu sammeln. Zog, weil wir einen Bollerwagen mitnehmen mussten, um die vielen Muscheln für unsere Familie und die Nachbarn überhaupt transportieren zu können. Es herrschte ein großer nachbarschaftlicher Zusammenhalt, und jede Muschelernte oder jeder Krabbenfang war Anlass für eine ausgiebige Feier.

Mit zehn Jahren war ich das erste Mal im Inselkino. Zusammen mit zwei Freunden wollten wir »Winnetou« sehen. Da ich eigentlich noch zu jung war, dachten wir uns einen ganz cleveren Plan aus. Der älteste von uns kaufte eine Eintrittskarte und ließ uns durchs Klofenster ins Kino steigen. Der Film ging mit toller Musik los, gerade ritt ich aufgeregt mit Winnetou durch die Prärie, als mich der Schein einer Taschenlampe traf. Der alte Hanken machte seinen Kontrollgang durch die Reihen. Zu jung und keine Eintrittskarte, nach nur zehn Minuten war mein erstes Kinoerlebnis jäh beendet. Aber die Anfangsmusik habe ich noch immer im Ohr.

In den 1970er Jahren ging ich bei Ebbe häufig mit meinem Vater zum Strand, denn wir vermieteten Kajaks an Gästekinder. Für zwei Mark durften sie damit eine halbe Stunde lang im Priel fahren. Der Weg mit den Kajaks vom Schuppen zum Strand war immer ein Slalom-Parcours durch die Sandburgen. Was für ein Gezeter, wenn wir dabei mal versehentlich auf die aufwändig gestalteten Burgenränder traten! Der Rückweg war noch beschwerlicher, denn dann hatten die Boote durch Wasser und Sand noch ein paar Kilo mehr an Gewicht zugelegt. Bei der Bootsvermietung habe ich aber immerhin meine allererste Freundin kennen gelernt. Diese Freundschaft hat sehr lange gehalten.

Das Leben war auf Wangerooge auch damals schon stark durch die Urlaubssaison geprägt. Während der Ferienzeit war unser Haus an Gäste vermietet, ich schlief in der Zeit auch schon mal im Heizungskeller. Außerhalb der Saison konnten wir Kinder uns dafür jedes eine der freien Ferienwohnung aussuchen, in der wir während des Winters wohnten. Allerdings durften wir unsere Lieblingsposter nur ganz vorsichtig mit Stecknadeln befestigen. Es war so etwas wie »vorübergehendes Wohnen«. Als ich dreizehn Jahre alt war, zogen meine Schwester Gesa und ich von Ostern bis zum Herbst in die »Sommervilla« unterhalb des Hauses meiner Großmutter in der Kapitän-Wittenberg-Straße. Wir konnten dort ganz frei leben, hatten viel besuch und es war ständig was los. Manchmal wurde es uns selbst zu viel, wenn wir bei uns auf Leute trafen, die wir selbst gar nicht kannten.

Als Kind und später als Jugendlicher hat mich Sport immer begeistert. Leichtathletik und Handball waren meine Favoriten. Unser Sportlehrer Herr Einhoff hat uns immer gefördert, »Sondersport« nannte er unser tägliches Training. Noch heute empfinde ich Dankbarkeit für sein unermüdliches ­Engagement. Meine Freunde Kalle, Michael und ich waren damals »fit wie Turnschuh«. Das war auch bitter nötig, denn wenn unsere Handballmannschaft zu Punktspielen ans Festland fuhr, mussten wir innerhalb weniger Stunden oft gleich zwei Spiele absolvieren. Zu Auswärtsspielen konnten wir ja nur bei Umtide fahren, und die war ja nicht so häufig. Zumindest das erste Spiel haben wir meistens noch gewonnen, beim zweiten waren wir dann schon nicht mehr klarer ­Favorit. Ich hatte eine berauschende Jugendzeit auf der Insel. Jeden Tag war etwas los, entweder wir zogen durch Kneipen, durch die Tenne, das Ahoi, die Kurhaus-Disco oder feierten bei Freunden in einem der Schrebergärten. Bei schönem Wetter machten wir Strandfete mit Lagerfeuer am Oststrand. Irgendjemand hatte immer seine Klampfe dabei oder Eule spielte auf dem Dudelsack. Anschließend sind wir heimlich zum Schwimmen ins Freibad geklettert. Es war eine Zeit, in der jeder so sein konnte, wie er wollte, er war in der Inselgemeinschaft aufgehoben, egal ob Punk, Rastafari, Normalo oder Sanyassin. Der Umgang miteinander war offener, toleranter und viel freizügiger als heute.

Die unbeschwerte Party war für mich 1978 beendet. Auf der Insel waren Lehrstellen knapp und ich durfte mich in Jever nur für eine Lehre entweder als Heizungsbauer oder als Klempner entscheiden. Weil ja Umtide war, unterschrieb meine Mutter gleich den Lehrvertrag und wir suchten mir ein Zimmer. An den vermeintlich starken Autoverkehr in Jever konnte ich mich auch erst allmählich gewöhnen und fuhr mit meinem Fahrrad lieber auf dem Fußweg. Die ganze Woche über freute ich mich auf mein Wochenende auf Wangerooge.

Meine Familie lebte seit Generationen auf Wangerooge. Schon seit dem 18. bzw. 19. Jahrhundert sind wir eine sturmfeste Insulanerfamilie. Ich selbst wohne jetzt seit dreißig Jahren in Wuppertal und habe seit über zwanzig Jahren meine eigene Praxis als selbständiger Ergotherapeut. 

Nach meinem Fortgang aufs Festland besuche ich mehrmals jährlich meine Familie und meine Inselheimat, habe somit niemals die Verbindung dorthin verloren. Meinen Lebensmittelpunkt werde ich in den nächsten Jahren wieder nach Wangerooge verlegen. Wobei ich die Entwicklung unserer Insel mit großer Sorge betrachte, die überlastete Infrastruktur, die immer zahlreicher werdenden Luxus-Appartements und nun auch noch der geplante Hotelkomplex an der Strandpromenade. Gemeinsam mit anderen engagierten Wangeroogern werden wir weiterhin versuchen, den gewachsenen Charakter unserer Insel zu erhalten.

ZUSAMMENGESTELLT: AXEL STUPPY

FOTOS: PRIVAT

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