WINTERVÖGEL

DER ZAUNKÖNIG VON WANGEROOGE

Abenddämmerung im Dorf. Ein kleines Tier huscht über die dunkle Charlottenstraße. Ist es eine Maus? »Sieht zwar so aus«, erklärt Wangerooges Tierexperte Friedrich-Wilhelm Petrus, »aber das kleine Schwarze ist tatsächlich ein Vogel, ein Zaunkönig, der in den Wintermonaten auch auf unserer Insel lebt.«

MOIN NR. 1 · 2022

Er ist ein Vogel, der niemals schwermütig, sondern beständig zum Singen bereit ist, und zwar spät des Abends und früh am Morgen; und besonders zur Winterzeit, dann ist sein Gesang kaum weniger stolz als der der Nachtigall.

So schreibt vor mehr als 500 Jahren der französische Botaniker Pierre Belon über den Zaunkönig und ist ganz hin und weg von diesem Vogel, der noch wie ein Streich der Natur wirkt, geradezu lächerlich klein und so unscheinbar, dass die meisten Menschen in der Tat meinen, nicht ein Vogel, sondern eine Maus husche vor ihnen durch das Geäst.

KLEINER KÖNIG – GROSSES HERZ

Der Zaunkönig zählt zu den kleinsten Vögeln der Welt; er wiegt kaum mehr als ein gehäufter Teelöffel Zucker und ist gerade so groß wie eine Spitzmaus. Er kann weder besonders hoch noch besonders weit fliegen und doch wird er schon bei den antiken Wissenschaften Aristoteles und Plutarch ehrfürchtig als »Basiliskos« bezeichnet – kleiner König. Später weissagen die Druiden aus seinem Gesang, und bis heute erzählen die alten Mythen, dieser Vogel sei der Bezwinger aller Grenzen. So tragen einige Arten durchaus beeindruckende Namen – Pantherzaunkönig oder Tigerzaunkönig etwa, und ja, das ist durchaus berechtigt, denn in dieser winzigen Vogelbrust schlägt ein Herz, das weder Furcht noch Feinde kennt: Ein Zaunkönig vermag allein durch sein Wutgezische neugierige Eichhörnchen und Katzen in die Flucht zu schlagen. In der Tiefe des Winters, wenn andere Vögel verstummen, ist es sein Gesang, der die Stille erfüllt – einige Zaunkönige beherrschen mehr Laute als die Nachtigall, und voller Inbrunst schmettern sie ihre Lieder mit immenser Lautstärke in die Welt hinaus. Und schließlich, wenn der erste Hauch des Frühlings naht, sind sie wieder die Ersten, die mit dem Nestbau beginnen; sie bauen unermüdlich, immerzu.

UNERMÜDLICHER NESTBAUER

Ein gutes Dutzend Nester sind es oft, angelegt an beinahe provozierend waghalsigen Standorten: Zaunkönige brüten in Briefkästen, in den Hosentaschen der hässlichsten Vogelscheuchen und in Schwalbennestern, die eigentlich noch einen – dann recht ungehaltenen – Besitzer haben. All dies tun Zaunkönige, und sie tun es, obwohl es für ein so kleines Lebewesen doch scheinbar viel sicherer wäre, ungesehen und ungehört im Untergrund zu verharren. Stattdessen schleudern sie dem Leben ihre ganzen zehn Gramm Gewicht entgegen. Und vielleicht ist genau dies der Grund, weshalb diese Vögel immer schon als Könige gefeiert wurden: Nicht, weil sie all diese Dinge tun, sondern weil sie sie gegen jede Wahrscheinlichkeit tun.

 

FOTO: JACK BULMER

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