AUFGEWACHSEN AUF WANGEROOGE
LUTZ LENZE (GEB. 1949)
Es ist mir immer noch wichtig, in der Nähe des Meeres zu leben, mit dem Wind um die Ohren und einem freien Blick auf den Horizont.
MOIN NR. 3 · 2021
Wie fast alle Insulanerkinder meiner Generation holte mich Schwester Anselma 1949 im Meeresstern auf die Welt. Mit sechs Jahren besuchte ich dann die Wangerooger Grundschule, die damals noch zuerst in der Charlottenstraße, später im neuen Gebäude an der Nikolausstraße war. An meinen Lehrer Fidi Becker erinnere ich mich noch recht gut.
Nach dem Schulabschluss konnte ich eine Lehre zum Elektriker bei Elektro Niehaus beginnen. Zur Berufsschule musste ich, wenn der Unterricht nicht gerade auf Wangerooge stattfand, nach Oldenburg fahren. Da ich für mich nach dem Abschluss auf der Insel keine attraktive berufliche Perspektive sah, verließ ich Wangerooge im Alter von 18 Jahren.
Nach Weiterbildungen und dem Abschluss meines Studiums lebte ich in verschiedenen Regionen Deutschlands und habe schließlich eine neue Heimat in Cuxhaven gefunden. Hier fühle ich mich zu Hause. Es ist mir immer noch wichtig, in der Nähe des Meeres zu leben, mit dem Wind um die Ohren und einem freien Blick auf den Horizont – und auch, um für den geistigen Horizont einen freien Blick zu behalten.
Auf der Insel Wangerooge aufzuwachsen, sehe ich als ein großes Privileg an; und meine Kindheit und Jugend bedeutete für mich eine rundum glückliche Zeit. Die Freiheit, die wir als Kinder genießen durften, trug wesentlich dazu bei. Stadtkinder, und insbesondere heutige Stadtkinder, können sich das nur schwerlich vorstellen.
Der 2. Weltkrieg war ja noch gar nicht so lange vorbei und die Auswirkungen gehörten noch zu unserem Alltag. Die Spuren des Krieges, vor allen Dingen natürlich die teilweise schon gesprengten Bunker, wurden mit Sand bedeckt. Davon war auf der Insel genügend vorhanden. Wir haben für unsere Jungenspiele die Relikte des Krieges benutzt, indem wir Pulverstangen aus Blindgänger-Kartuschen entfernt haben. Muhli Schütte und ich, aber auch viele der anderen Jungs, haben diese zu kleinen Bomben aus Kondensmilch-Dosen oder angeschwemmten Schwimmkugeln von Fischernetzen umgebaut, um sie dann explodieren zu lassen – typische Neugier und Erfindergeist kleiner Jungen. Der Gefahr unserer Spiele waren wir uns gar nicht bewusst, und wenn, dann glaube ich heute, wäre es uns auch egal gewesen.
Mein Vater war Strandinspektor und wir wohnten in der Jadestraße. Der Weg zum Meer war nicht weit, sodass wir nach jedem Sturm an den Strand gingen, um nach angespültem Strandgut zu suchen. Es wurde viel Holz von über Bord gegangenen Decksladungen angeschwemmt, Planken, Bretter, Kanthölzer und Paletten. Das wurde von den Insulanerfamilien zersägt und zum Heizen der heimischen Herde genutzt.
Nach Stürmen und anschließenden Ostwindlagen galt für uns Inselkinder: Nun gibt es am Strand Bernstein zu finden. Die besten Fundorte? Da hatte jeder seine eigene geheime Theorie, aber alle waren wir uns einig, dass Bernstein immer zusammen mit den bröseligen schwarzen Holzresten zu finden war.
Unsere Fantasie damals schien schier unerschöpflich. Um Krabben zu fangen, konstruierten wir eine Vorrichtung mit feinmaschigem Netz. Bei auflaufender Tide zogen wir sie in knietiefem Wasser direkt in der Brandung über den Meeresboden, genauso wie bei den Küstenfischern. Zu unserem Erstaunen fingen wir nicht nur Krabben, sondern auch unterschiedliche Fische, darunter sogar einmal einen kleinen Lachs. Diese Fischsorte kannten wir damals aber noch nicht, bereiteten ihn völlig falsch zu und er schmeckte natürlich abscheulich. So landete dieser eigentlich köstliche Fisch bei den Hühnern.
An meine Kindheit und Jugend denke ich oft und richtig gerne zurück. Das Inselleben hat mich sehr geprägt, dennoch verspüre ich heute nicht den Wunsch, dort wieder zu leben. Es war eine andere, eine tolle Zeit. Aber das Leben und die persönliche Entwicklung sind weitergegangen. Mein damaliges Lebensgefühl würde ich heute auf der Insel gewiss nicht mehr finden.