Serie
Zur Börse
Wer kam bloß auf den Gedanken, einer Dorfkneipe, gelegen zwischen Bahnhof, Leuchtturm und Kirche, den urbanen Namen »Zur Börse« zu geben? Zumal sich die nächste Börse gut hundert Kilometer entfernt von Wangerooge in Bremen befand. Die Antwort ist, wie so häufig, in der Geschichte Wangerooges zu finden.
MOIN NR. 5 · 2020
Schon im 1855 untergegangenen Westdorf unterhielt Gerd Carstens das Lokal »Zur Hohen Börse«. Dessen Sohn Johann Friedrich erbaute am Südrand des neuen Dorfes 1873 ebenfalls eine Gaststätte, die er in Erinnerung an seinen Vater »Zur Börse« nannte. Bäcker Albert Claßen Ahmels war der erste Betreiber des neuen Lokals, zu dem auch eine Backstube gehörte. Bis zur Schließung 2007 sollte die Gaststätte im Familienbesitz bleiben.
Als 1906 der Inselbahnhof erbaut wurde, hofften die Wirte des Süddorfes auf das große Geschäft. 1909 erhielt die »Börse« sogar eine schmucke Glasterrasse. Aber wie heute immer noch, strömten die Gäste erst einmal über die Zedeliusstraße dem Strand entgegen.
Bis zum Ende des 1. Weltkriegs fanden die Sitzungen des Insel- und des Kirchenrats in Ahmels Gasthaus statt. Der Ofen der Backstube jedoch blieb ab Kriegsbeginn 1914 kalt und wurde nie wieder angeheizt.
A.C. Ahmels Frau Hilke und deren Tochter Clara Ahmels führten nach dem Tod des Wirts 1922 die Gaststätte weiter. Sohn Paul Ahmels kehrte vergebens in der Hoffnung nach Wangerooge zurück, das Lokal übernehmen zu können. Das sollte ihm erst gut zwei Jahrzehnte später gelingen.
Wie fast die gesamte Infrastruktur des Inseldorfes wurde auch die Börse beim großen Bombenangriff im April 1945 komplett zerstört.
Wally und Paul Ahmels kauften gleich nach dem Krieg eine von den Bombern übersehene Wehrmachts-Baracke, die sie am alten Standort der Börse aufbauen ließen. Nachts musste das Baumaterial bewacht werden, damit die Baracke komplett blieb. Eine Kuh, die törichterweise auf eine Mine getreten war, versorgte die Arbeiter während des Aufbaus mit Gulasch. Mit dem Wenigen, das es damals gab, richteten Ahmels das Lokal ein und tauften es wieder auf den alten Namen »Zur Börse«. Es sollte der Beginn eines weitere sechs Jahrzehnte dauernden gastronomischen Erfolgs werden.
Als erstes erkor der Wangerooger Klootschießer-Verein die Kneipe zu seinem Vereinslokal. Die Vereinsflagge fand in einer eigenen Vitrine ihren würdigen Platz. Alle wichtigen Sitzungen wurden hier abgehalten und endeten manchmal in etwas nebulösen Erinnerungen.
Schon frühzeitig waren es die Brathähnchen, die zur kulinarischen Spezialität der Börse wurden. Und die Feste erst einmal! Zum Bockbierfest am Faschingsdienstag drängten sich die Feiernden nicht nur um die Sektbar, die immer von Ingeburg Bruncken bedient wurde.
Während der Zeit des Wirtschaftswunders prosperierte mit der Insel auch die Börse. Neben den vielen abendlichen Feiern wurden schon mittags in zwei Schichten täglich hundert bis hundertfünfzig Essen ausgegeben.
Von ihren Eltern bzw. Schwiegereltern übernahmen Ruth und Werner Fliegenschmidt 1960 die Gaststätte. Es waren hauptsächlich Insulaner, Internatsschüler und auf der Insel stationierte Soldaten, die zum Stammpublikum der Börse zählten.
»Wenn wir abends nicht im Mittelpunkt waren, dann waren wir in der Börse«, blickt der frühere Internatsschüler Christian Kornmesser auf seine Zeit im Inselgymnasium während der 60er Jahre zurück. »Uns blieb fast das Herz stehen, als ein Mitschüler, der zu fortgeschrittener Stunde schon pleite aber immer noch durstig war, den alten Börsenwirt Fliegenschmidt anpflaumte: »Fliegenschiss lot anpinnen oder ick hau Dir die Insel aufn Kopp«. Ganz so rabiat kam es natürlich nicht, und die Drohung des Schülers war sowieso nur adoleszierendes Imponiergehabe eines vorlauten Jugendlichen.
Bernhard Voigt, ebenfalls ehemaliger Schüler und Rettungsschwimmer, hat ganz eigene Erinnerungen an die Börse: »Meine Alma und ich haben 1968 in der Börse geheiratet. Alma wurde, wie das damals so üblich war, entführt und ich musste sie suchen. Gefunden habe ich sie in der Kneipe von Mutter Albrecht, die war etwa da, wo heute die Kogge ist. Ich musste sie auslösen, um sie wieder mit in die Börse zu unseren Gästen nehmen zu dürfen. Dann erst durfte ich mit ihr zur Quetschkommoden-Musik von Gerd Toben tanzen und tüchtig feiern. Die Börse hatte, wenn man zur Tür rein kam, links einen Saal. Gaststätte und Saal waren an dem Tag fest in unserer Hand. Von der Kirche aus hatten wir einen sehr kurzen Weg in die Börse.
Während der Feierlichkeiten habe ich mich für kurze Zeit abgesetzt, bin zum Preisboßeln auf der Straße zum Westen gegangen, habe den ersten Preis – ein Kaffeeservice – gewonnen und dann wurde weitergefeiert bis in die frühen Morgenstunden.«
»Zur Börse«, erinnert sich auch der ehemalige Rettungsschwimmer Dirk Wischhusen, »fallen mir sofort Edda und Amelie Fliegenschmidt ein. Sie kamen häufig nach Schulschluss ins Freibad und machten die Jungs nervös. Abends gingen wir dann gerne in die Börse, setzten uns in den Saal und wurden dort meistens von Edda bedient. Aber nur solange, bis Vater Fliegenschmidt das bemerkte. Er behielt seine Töchter immer im Auge, damit ihnen ja keiner der Jungs vom Festland zu nahe kam«.
1974 wurde das benachbarte Haus Amelie abgerissen und an seine Stelle ein moderner Anbau mit Ferienwohnungen gesetzt. Die Kneipe blieb jedoch, wo sie hingehörte: In der alte Baracke.
Bis 1988 führte Werner Fliegenschmidt das Lokal, nach dessen Tod gab seine Frau Ruth es weiter an die nächste Generation. Ihre Tochter Amelie und deren Mann Bernd Fehring führten die Gaststätte ab 1989.
Anfänglich brummte der Laden noch gewaltig. Mit viel persönlichem Engagement wurden Skat- und Rommé-Abende ausgerichtet, die Brathähnchen waren nach wie vor der Renner und viele Wangerooger Vereine trafen sich in dem beliebten Lokal. »Meine persönliche Erinnerung an die Börse«, fasst der Insulaner Lutz Lenze so zusammen: »Die Hähnchen waren einfach klasse.« Gemeinsam mit seinen Rettungsschwimmerkollegen trafen sie sich regelmäßig zum Hähnchen-Abend in der Börse. Für alle möglichen Feiern gab es ausreichend Platz, von Jubiläen bis hin zu manchmal ausschweifenden Vereins- und Weihnachtsfeiern. Jedoch ging nicht nur die Zeit der großen Insulanerfeste langsam zu Ende, auch das insulare Dorfleben verlagerte sich zu Beginn des Jahrhunderts immer mehr in Richtung oberer Zedeliusstraße und Strandpromenade. Wie so viele Lokale südlich des Dorfplatzes wurde es auch für die Börse finanziell immer enger. Nicht zuletzt durch die schwere Erkrankung Amelies wurde das Ende der Börse absehbar.
2007 war dann endgültig Schluss, das Gebäude musste verkauft werden. Die alte Börse wurde abgerissen und wich einem Neubau mit Ferienwohnungen. Nur der Name »Residenz Zur Börse« erinnert noch an die älteste und eine der urtümlichsten Kneipen Wangerooges.
Wenn man auf dem kleinen Fußweg vom Dorfplatz, vorbei an der Kirche, Richtung Bahnhof geht, spielt ja vielleicht die Phantasie nur einen kleinen Streich. Aber war da nicht gerade ganz leise das Klacken von Würfeln zu hören, und liegt nicht doch ein kaum wahrnehmbarer Duft von würzigen Brathähnchen in der Luft? Ach ja, unsere Phantasie …