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Thema 2020

DIE RIESEN VOR WANGEROOGE

Es ist Juni im Jahr der Corona-Krise. Wilhelm Maaß fährt jeden Morgen mit seinem Elektromobil von seiner Wohnung an der Friedrich-August-Straße hinauf zum Strand und schaut, ob die dicken Pötte immer noch vor Wangerooge liegen. »Ja«, knurrt der 87-Jährige, den sie auf der Insel nur »Queller« nennen, »noch alle da!«

MOIN NR. 4 · 2020

Nach dem heißesten April überhaupt und dem »stinknormalen« Mai bringt der Juni den Sommer mit. Herrliches Ferien­wetter. Normalität macht sich an und in der Nordsee breit. Vor Wangerooge liegen sie – die Kreuzfahrtriesen. Mein Schiff. Dein Schiff. Unser Schiff. Die Rederei um die Reederei TUI Cruises ist in vollem Gang. »Müssen die denn unsere Umwelt verpesten …?« Die Frage hört man immer wieder von Urlaubsgästen.

Auch der Ozeanriese »Mein Schiff 3« liegt nach mehr als einem Monat Liegezeit in Cuxhaven vor Wangerooge auf Reede. Von den rund 2.900 TUI-Beschäftigten an Bord waren nur 1.900 in ihre Heimatländer gebracht worden. Vor der Insel lagen da bereits die beiden Schwesterschiffe »Mein Schiff 4« und »Mein Schiff 6« auf Warteposition vor Anker.

Insel-Doc Frank Kortenhorn kennt sie bestens, die TUI-Kreuzfahrtschiffe. Als Inselarzt hat er bei den großen Kreuzfahrten auch zahlreiche erkrankte oder verletzte Besatzungsmitglieder kennengelernt. Auch bei der Taufe der »Mein Schiff 5« war Dr. Kortenhorn dabei, ebenso die Sängerin Lena Meyer Landrut und andere Ehrengäste.
Jetzt, Anfang Juli 2020, liegt die »Mein Schiff 5« sechs Meilen vor Wangerooge. Für den Inseldoc eine willkommene Möglichkeit, den Kreuzfahrern einen Besuch abzustatten. Mit seinem Motorboot kommt Frank Kortenhorn so nah wie möglich an den »Riesen« ran. Aber an Bord darf er natürlich nicht. Wenige Tage später, am 6. Juli 2020, sehen viele Schaulustige vom Wangerooger Strand aus die Abreise der »5« nach Wilhelmshaven.

BUNDESWEITE SCHLAGZEILEN

Andere Wangerooger erinnern sich. »Mein Schiff 3« war vor einigen Wochen bundesweit in die Schlagzeilen gelangt, nachdem der Kreuzfahrtliner mit rund 2.900 TUI-Beschäftigten an Bord wegen Corona unter Quarantäne gestellt wurde. Weil der Kreuzfahrtbetrieb ruht, waren sie zuvor im Mittelmeer und vor den Kanarischen Inseln von anderen Schiffen der Reederei eingesammelt worden. Üblicherweise reisen auf der »Mein Schiff 3« rund 2.500 Gäste und 1.000 Besatzungsmitglieder.

Nachdem am 30. April ein Covid-19-Fall an Bord der »Mein Schiff 3« festgestellt wurde, wurde die gesamte Besatzung getestet. Insgesamt neun Crewmitglieder hatten sich mit dem Virus infiziert. Sie wurden von Bord gebracht und isoliert.

Während der Quarantäne war es zu Auseinandersetzungen an Bord gekommen. Unter der Leitung des Havariekommandos war daraufhin ein Team, bestehend aus Mitarbeitern der Deutschen Seemannsmission, TUI Cruises und Fachberatern des Havariekommandos für psychosoziale Notfallversorgung zur Betreuung der isolierten Crewmitglieder an Land und an Bord, eingesetzt worden.

SOMMERANFANG

Die Geschichte geht weiter. Mehr als ein Dutzend Schiffe liegen am 21. Juni 2020 vor Anker, statt mit Gütern für Millionen an Bord die Weltmeere zu befahren. Die Reede »Neue Weser Nord« nördlich von Wangerooge. Nach Angaben des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamts liegen dort normalerweise zwischen drei und sechs Schiffe. Am Sommeranfang waren es 16. Und man brauchte nicht einmal eines der zum Beispiel im »Diggers« liegenden Ferngläser, um vom Wangerooger Strand die Ozeanriesen zu sehen.

Ein kostenloses Schauspiel für die Leute auf der Strandpromenade. Auch Volker »Charly« Langhoop, »Ur-Einwohner«, sitzt mit seiner besseren Hälfte Maike auf der Bank am »Gerken« und schaut rüber zu den Schiffen, knipst Fotos für Kinder und Enkel. Auch das Ehepaar, das im Vorjahr die Goldene Hochzeit feierte, genießt den Anblick der Schiffsparade. Auch die Langhoops fragen sich, wie es ohne die Riesenpötte weitergehen soll.

Die »Bild« brachte es auf den Punkt: Herrscht Flaute am Markt, nimmt die Zahl der »Auflieger« zu. Auflieger? Der an der Peripherie von Wangerooge lebende Hermann Goldschweer, der früher die Weltmeere befahren hat, erklärt: »Auflieger nennt man jene Schiffe, die mangels Ladung oder Passagieren von den Reedereien nicht eingesetzt werden; wie zum Beispiel der Autotransporter »Hoegh Trident«, der unter norwegischer Flagge fährt und der bis zu 6.500 Pkw transportieren kann. Das Schiff verließ Bremerhaven am 18. Mai, hat seitdem laut Tracking-Dienst »MarineTraffic« keinen Hafen mehr angelaufen.

Jetzt liegt er vor Wangerooge. Der Stillstand des Autotransporters, der die Route Europa-Asien bedient, passt zu den Umschlagzahlen in Bremerhaven. Die Zahl der umgeschlagenen Fahrzeuge im April: 88.421. Der Vorjahreswert: 195.178. Mehr als das Doppelte!

Die Kreuzfahrtschiffe verpesten die Luft. Nicht selten ist dieser Satz von Besuchern der Insel zu hören. Stimmt das? Bei den Reedereien ist das natürlich ein Thema. Aber die Umstellung ist bereits seit einigen Jahren im Gang, bei einigen umgesetzt: Bis Ende 2021 sollen alle Kreuzfahrtschiffe, die mit Schweröl betrieben werden, mit hybriden Abgasreinigungssystemen (EGCS) ausgestattet sein. Die reduzieren den Schwefelgehalt in den Emissionen um 98 Prozent. Darüber hinaus bekommen künftig alle Schiffe ein System zur Reduzierung der Stickoxid-Emissionen.

Probleme, wie es die Zielhäfen der Kreuzfahrschiffe haben, kennt man auf Wangerooge nicht. Und das ist auch gut so …

Text: MANFRED OSENBERG

FOTOS: EVELYN GENUIT + FRANK KORTENHORN + MANFRED OSENBERG

Quelle: Deutsche Presse-Agentur

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