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Urlauberseelsorge

MORGENLICHT AM MEER, DIE STRANDKIRCHEN UND DIE SPANISCHE VANILLETORTE

Weshalb eine ehrenamtliche Urlauberseelsorgerin eigentlich gar nicht mehr nach Hause wollte.

MOIN NR. 5 · 2021​

Die Urlauberseelsorge der katholischen Kirche auf Wangerooge gibt es seit über 50 Jahren. Und sie ist auf ihre Weise einzigartig: Während der Ferienzeiten ziehen Ehrenamtliche aus ganz Deutschland ins Gemeindehaus Ansgar ein und gestalten ein kreativ-sportlich-spirituelles Programm für die Urlauber. Manuela Pfann und ihr 13-jähriger Sohn waren in diesem Jahr das erste Mal Mitglied in einem der Sommerteams – und zum ersten Mal überhaupt auf Wangerooge. Für die MOIN blickt die Journalistin aus der Nähe von Stuttgart zurück und erzählt von ihrer besonderen Sommererfahrung auf der Insel.  

Es ist Anfang August, um die Mittagszeit. Mit meinem Sohn stehe ich am Inselbahnhof und habe gerade unser Gepäck aus dem Kofferwagen geholt. Mit Zug, Bus und Schiff waren wir eineinhalb Tage aus Stuttgart unterwegs. Ich bin ziemlich müde und erschöpft. Bis zur letzten Minute vor der Abreise hatte ich gearbeitet und zweifle gerade, ob es tatsächlich eine gute Idee war, mich für die ehrenamtliche Mitarbeit im Team der Urlauberseelsorge zu bewerben. Es wäre mir jetzt eigentlich nach Ausschlafen und einfach mal gar nichts tun, nach treiben lassen. Dass ich morgen früh um 7 Uhr aufstehen muss, daran will ich gar nicht denken. Und wie erst sollte ich meinen Sohn um diese Zeit motivieren, das Bett zu verlassen? Dass jeder Tag um 7.30 Uhr in der St. Willehad-Kirche mit einem morgendlichen »Einklang« beginnen sollte, das konnten wir dem Programm der Urlauberseelsorge entnehmen – ansonsten hatten wir wenig Ahnung, was uns erwarten würde.

Ich habe gerade Google Maps geöffnet, um zu schauen, wie wir vom Bahnhof zur katholischen Kirche kommen. Da ruft plötzlich jemand: »Manuela und Benedikt?« Ich war perplex – ist da jemand, der uns kennt? Ich drehe mich um, sehe niemanden. Dann steht eine Frau vor uns und sagt: »Seid ihr Manuela und Benedikt?« »Äh, ja«, ich bin noch immer verdutzt. »Ich bin Silke, vom Team der Urlauberseelsorge. Euch haben wir noch auf der Liste und dachten, das könntet ihr sein. Wir holen Euch hab«. Und dann stand da eine Handvoll fremder Frauen um uns rum und ehe wir es uns versahen, waren Koffer und Rucksäcke auf den mitgebrachten Handwägen verstaut und los ging es in Richtung Kirche und Haus Ansgar, unserer Unterkunft. Auf dem Vorplatz der Kirche stehen Strandkörbe. Im Altarraum entdecke ich wenig später Fischernetze, Taue und Holz, das als Treibgut angeschwemmt wurde. So habe ich mir Kirche im Urlaub tatsächlich vorgestellt! Die Koffer sind ausgepackt, ich muss ans Meer; ich frage in die Runde nach dem Weg. Die Frauen grinsen mich an – »hinter der Kirche«. Ich kann es kaum glauben, der Strand beginnt tatsächlich fast direkt hinter dem Haus. Füße im Sand und die Nase im Wind – ohne Maske kann ich das Meer endlich auch riechen. Ich war noch nie auf Wangerooge, die seit vielen Jahren gesammelte Nordsee-Sehnsucht verschafft sich Raum.

Um 19.30 Uhr ist Gottesdienst; während Corona war ich nur ganz selten in der Kirche. Mir hat nicht wirklich etwas gefehlt. Und gestreamte Gottesdienste mit Priestern als Alleinunterhalter im Altarraum habe ich mir nicht angeschaut; das ist nicht mein Bild von Kirche. Und jetzt traue ich meinen Ohren kaum: Fast die Hälfte unseres 15-köpfigen Teams ist zum Orchester geworden: Querflöte, Flöte, Klavier, Violine, Gitarre und Kontrabass begleiten von jetzt ab jeden Tag die Lieder, deren Texte einfach mit Beamer an die Wand geworfen werden. Es sind moderne Lieder, eingängige Melodien, schöne Texte, viele kenne ich – gesungen habe ich sie schon sehr lange nicht mehr. Die Kirche ist corona-voll (???), es klingt wunderschön durch den Kirchenraum, über 50 Urlauber sind da, viele stehen sogar vor der Kirche. Ich bin beeindruckt. Ebenso von der Schar der Kinder, die als Messdiener dabei sind. Hier auf Wangerooge gibt es keine ausgrenzenden Regeln: alle dürfen mitmachen, egal wie alt. Pfarrer Schlotmann hängt einfach jeder und jedem ein Kreuz um den Hals und dann ziehen sie gemeinsam ein. Die Kleinen dürfen sogar Wasser, Wein und Brot zum Altar bringen oder zur Gabenbereitung klingeln. Die älteren Ministranten assistieren. Großartig!

Wir sind schnell drin im Rhythmus der Urlauberseelsorge: 7.30 Uhr Einklang, 8.00 Frühstück, 9.00 Uhr tägliche Besprechung, 12 Uhr Mittagessen, 15 Uhr Kaffee, 18.00 Uhr Abendessen, 19.30 Uhr Gottesdienst. Zwischendrin individuelles Programm. Das Prinzip: Jeder bringt seine Gaben und Talente ein, alles andere wird gemeinsam erledigt. Zum Beispiel Tischdienst, Gartenarbeit, Corona-Registrierung oder die morgendlichen Einklänge vorbereiten. 13 Frauen zwischen 18 und 65, ein junger Mann und Benedikt, das ist unser Team. Die meisten kennen einander nicht. Es funktioniert erstaunlich gut, wir lachen viel, wir unterstützen einander, wir sitzen abends zusammen und trinken ein Gläschen Wein. Meine Gaben als Journalistin liegen nahe, ich kann schreiben und fotografieren. Deshalb biete ich kleine Workshops an: fotografieren bei Sonnenaufgang und biographisches Schreiben – ersteres wird am Ende zu meinen bewegendsten Erinnerungen an Wangerooge gehören; um kurz vor 6 Uhr den Beginn eines Tages am Meer zu erleben, das ist ein Seelen-Moment. Spontan übernehme ich noch den Facebook-Kanal der Kirchengemeinde, lade dort zu Veranstaltungen ein und berichte anschließend darüber. Und wir haben tolle Sachen im Angebot: Flaschenpost und Windfänger basteln für Kinder, Nachtwanderung für Jugendliche, Spaziergang auf dem Seelenpfad durch die Dünen, Achtsamkeitsübungen am Strand, biblische Geschichten aus heutiger Sicht, Kaffeestunde. Marga, Ärztin, und schon einige Jahre als Urlaubsseelsorgerin auf Wangerooge dabei, spricht an einem Abend über ein sensibles Thema; ich bin zunächst unsicher, ob das für die Urlauberseelsorge passt: es geht um das Thema Suizid. Nicht wertend, ausschließlich erzählend und reflektierend. Das Thema passt. Es kommen etliche und einige bleiben länger, tauschen sich im kleinen Kreis noch aus.

Egbert Schlotmann erzählt mir von seiner Erfahrung, dass Menschen im Urlaub ganz offen seien und mit jenen Fragen und Gedanken in Berührung kommen, die sie im Alltag oft wegschieben. Und deshalb gehe es in den Gesprächen mit den Urlaubern ganz oft um existenzielle Themen. Übers Jahr sind es zahlreiche Gespräche, die er führt. Spontan nach der Kirche, am Strand oder mit Anmeldung. Alles ist möglich.

Nach vier Tagen spüre ich nichts mehr von meiner Müdigkeit, ich bin im »Flow«. Dieser durchgetaktete Tag trägt mich auf wundersame Weise. Die klare Struktur befreit vom ständigen Neu-Planen und Überlegen. Klosterleben könnte sich so ähnlich anfühlen, kommt mir in den Sinn. Benedikt hat noch nicht gemurrt bisher, er hat alles mitgemacht; das ist ein gutes Zeichen. Vielleicht tut auch ihm die Struktur gut, gerade nach diesem verkorksten Corona-Schuljahr. Er hat mittlerweile seinen Platz und seine Aufgaben gefunden: Er ministriert bei den Gottesdiensten, holt jeden Abend Brot und Brötchen für das Haus vom Inselbäcker und mäht Rasen. Hinter der Sache mit dem Brot steckt noch eine kleine Geschichte, die mich beeindruckt: Im Haus Ansgar gibt es ganz bewusst immer aufgebackenes Brot vom Vortag. Egbert Schlotmann ist auf dem Land aufgewachsen, in einer Arbeiterfamilie mit acht Kindern. Brot war rar und kostbar. Bis heute ist es ihm wichtig, dass Brot nicht weggeworfen wird.

WORKSHOP FÜR JUNGE LEUTE

Benedikt ist der Jüngste im Team, der einzige Jugendliche. Weil er Spaß am Fotografieren hat und sich mit Handy-Foto-Apps gut auskennt, bietet er zweimal einen Workshop für junge Leute an. Beim ersten Mal kommt nur ein Mädchen. Beim zweiten Termin hat er deshalb mit niemandem mehr gerechnet – und plötzlich stehen 12 Kinder und Jugendliche da. Ich schwitze – ob er das hinbekommt, 90 Minuten allein? Anfangs bin ich noch dabei und helfe ein wenig, den Ablauf zu koordinieren. Er erklärt den Gleichaltrigen, was es mit der ISO auf sich hat, was eine Blende ist und warum der goldene Schnitt wichtig ist. Dann zieht die Gruppe los über die Insel auf der Suche nach Motiven. Einige Jungs kennt er vom Ministrieren. Am Ende wollen sie alle seine Handynummer – es kann also nicht so schlecht gewesen sein. Ich bin beeindruckt und sage ihm, dass er jede Präsentation, die in der Schule noch auf ihn zukommt, ohne Problem meistern wird.

Es ist gleichzeitig Besonderheit und Herausforderung der Inselseelsorge, dass wir nie wissen, wer kommt. Das ist mal abhängig vom Wetter, mal von den Urlauberzeiten in den Bundesländern oder von anderen Veranstaltungen auf der Insel. Und sicher auch von der Art des Angebots. Die Kunst der Urlauberseelsorge ist es, sich jeden Tag auf neue Gäste einzustellen. Für einen Radiosender zuhause mache ich eine kleine Umfrage unter den Urlaubern, die zum Gottesdienst kommen. Ich möchte wissen, weshalb sie da sind. Für mich das Erstaunlichste dabei: Ich finde niemanden, der zum ersten Mal hier ist. Im Gegenteil: Etliche kommen sogar deswegen nach Wangerooge, weil sie wissen, es gibt hier nicht nur Sonne, Meer und gutes Essen, sondern auch ein spirituelles Angebot. Also was für Leib und Seele. Das hat sich über die Jahrzehnte rumgesprochen oder »weitervererbt« – denn ich treffe Menschen, die mir erzählen, dass sie schon mit ihren Eltern hier waren, heute sind sie es mit ihren eigenen Kindern.

Unsere erste Woche auf Wangerooge ist fast vorüber, auf dem Programm steht ein Gottesdienst am Strand. Pfarrer Egbert Schlotmann läuft in Birkenstock zur Promenade, mit kariertem Kurzarm-Hemd und nur mit der Stola, einer Art Schal für Priester, um die Schultern gehängt. Kein Gewand. Er ist erkennbar als Priester, aber es ist nicht aufdringlich. Mir gefällt das gut und ich denke daran, wie gegensätzlich unsere Fronleichnamsprozessionen sind, mit allem Glanz und Gloria, die mir mittlerweile wie trotzige Demonstrationen aus einer anderen Zeit vorkommen. Der Gottesdienst mit Blick in die Weite und Wind in den Haaren tut gut. Ich kann gar nicht genau beschreiben weshalb. Ich mag Kirche einfach dann am liebsten, wenn sie auch räumlich mitten in der Welt stattfindet. Als Altar dient ein weißer Holzschemel im Sand; Brot und Wein in den vergoldeten Gefäßen wirken wie ein Stillleben vor dieser Kulisse. Nebenan im Strandkorb wird Party gefeiert. Genauer gesagt: Die Urlauber unterbrechen ihre Party und hören zu. Egbert Schlotmann setzt sich nach dem Gottesdienst zu den jungen Leuten an den Rand der Strandpromenade, trinkt noch ein Bier mit ihnen. Und er hört sie sagen, dass sie den Kontakt zur Kirche zu Hause verloren haben. Aber das hier eben, das habe ihnen gefallen. In seiner Predigt hat Egbert Schlotmann zuvor gefragt: »Kennen wir eigentlich die Bedürfnisse der Menschen, die hierherkommen? Wissen wir, was sie brauchen? Erreichen wir sie? Finden sie uns? Bieten wir das Richtige an?« Es sind Fragen, auf die wir alle keine klare Antwort haben. Aber ich denke, solange wir, solange die Kirche, diese Fragen noch stellt, ist das ein gutes Zeichen.

In den Stunden zwischen den Diensten und Programmpunkten zieht es mich hinaus. Jedes Mal, wenn ich meine Füße auf die roten Pflastersteine setze, fühle ich mich in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt. In den ersten Tagen schaue ich noch dreimal links und rechts, um sicherzugehen, dass tatsächlich kein Auto kommt. Aber es kommt keines. Die Insel ist eine andere Welt. In diese Kategorie reihe ich auch meinen Wangerooger-Lieblingskuchen ein: Mit einer spanische Vanille-Torte aus dem Kuchenladen im Strandkorb zu sitzen und aufs Meer zu schauen ist einfach nur himmlisch!

ALTARRAUM NEU GESTALTET

Die letzten zwei Tage der Teamzeit sind angebrochen. Alle zusammen legen wir Hand an und gestalten den Altarraum von St. Willehad neu. Anlass dazu gibt uns ein schöner, mächtiger, alter Holzbalken, den das Team vor uns am Meer gefunden und zum Haus geschleppt hat. Wir reinigen ihn jetzt, schleifen und hobeln Spreißel ab. Er soll künftig das blaue Edelsteinkreuz tragen. Es ist auch ein symbolischer Akt, der sich hier abspielt: Wir hängen Christus ab, vermessen das Kreuz neu. Wir lösen Taue, räumen Steine aus dem Weg, reinigen Netze und werfen sie wieder neu aus. Am Ende ist der Altarraum befreit vom Staub und vom Schmodder, der sich über die Jahre angesammelt hat. Zunächst bin ich unsicher, wie das die Inselgemeinde findet – es ist schließlich deren Kirche, die wir hier einfach mal schnell auf den Kopf stellen. Doch es ist ganz anders. St. Willehad ist auch zu unserer, zu meiner Kirche geworden in diesen Wochen. Weil es für die kleine Inselgemeinde schon immer klar ist: Es geht nur miteinander. Hier mauert niemand oder igelt sich ein, im Gegenteil. Erst am Ende bekomme mich mit, dass Ursel aus der Gemeinde den Kuchen gebacken hat, der zu unserer Begrüßung am ersten Tag auf der Kaffeetafel im Kirchgarten gestanden hat.

ABSCHIED FÄLLT SCHWER

18. August, morgens kurz nach 7 Uhr, Inselbahnhof. Wir nehmen die erste Fähre des Tages zurück aufs Festland, mein Sohn und ich und noch eine Handvoll aus unserem Team. Wir sind zum Bahnhof begleitet worden. Hier kommt keiner allein an und es geht auch keiner allein fort; das ist liebevoll gewordene Tradition für die UrlaubsseelsorgerInnen, habe ich gelernt. Der Abschied fällt trotzdem schwer. Ich hätte viel drum gegeben, noch ein wenig bleiben zu dürfen. Als der Zug anfährt, rollen Pfarrer Schlotmann, Ursel von der Inselgemeinde und ein paar vom Team ein Transparent aus. » … Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott Dich fest in seiner Hand« – das ist nicht nur in großen bunten Lettern geschrieben, sie singen das schöne irische Segenslied für uns. Unter dem Winken verschwindet meine kleine Träne in der Maske. Ich bin ein bisschen müde, ein bisschen erschöpft – und ziemlich glücklich.

 

DIE AUTORIN

Manuela Pfann (49) arbeitet als Journalistin für die Diözese Rottenburg-Stuttgart und war sechs Jahre stv. Pressesprecherin des Rottenburger Bischofs. Sie schreibt regelmäßige Beiträge für das Autorenteam von »Kirche im Südwestrundfunk (SWR)«. Für das Sendeformat »SWR1 Begegnungen« hat sie mit Pfarrer Egbert Schlotmann über Urlauber- und Insel-Seelsorge gesprochen. Die Sendung lief am 19.9. in SWR1, nachlesen und nachhören kann man sie auf www.kirche-im-swr.de

• Website der Kirchengemeinde St. Willehad mit allen Informationen und jeweils aktuellen Programmen der Urlauberseelsorge: www.st-willehad.de

 

TEXT: Manuela Pfann

FOTOS: PRIVAT

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